Die Villa Marlier

 

WENN HÄUSER ERZÄHLEN KÖNNTEN…. Berlin Wannsee, 1914

Ich werde 1914 von dem Kaufmann und „königlichen Geheimrat“ Ernst Marlier durch den Architekten Paul Baumgarten auf einem 30500 qm großen Grundstück am Wannsee, am Rande der Kolonie Alsen, errichtet. Ich habe 1500 qm Wohnfläche, von meiner Gartenseite aus hat man einen herrlichen Blick über den Wannsee. Mein erster Besitzer legt großen Wert darauf, dass mein repräsentatives Erdgeschoss die Türen in einer Flucht hat, auf der einen Seite geprägt durch eine Bibliothek mit rundem Erker, auf der anderen Seite durch einen großzügigen Wintergarten. Meine Inneneinrichtung ist mit Täfelungen, Marmorsäulen und erlesenen Möbeln vom feinsten!

Der Herr Marlier führt ein recht eigenartiges Leben, so verdient er sein Geld u.a. mit dem Verkauf dubioser Schlankheitsmittelchen, wird wegen Körperverletzung, Widerstand gegen die Staatsgewalt und Hausfriedensbruch verurteilt, und so lässt sich seine Frau 1922 von ihm scheiden!

1921 verkauft er mich an Herrn Friedrich Minoux. Dieser führt ein noch eigenartigeres Leben! Er gründet unzählige Firmen und Scheinfirmen, landet ebenfalls mehrmals im Gefängnis und fühlt sich schon sehr früh zum aufkommenden Nationalsozialismus hingezogen. Aus der Untersuchungshaft heraus verkauft Minoux mich 1940 an die Stiftung „Nordhav“ und ich werde ein Erholungsheim für nationalsozialistische Eliten, und deren Gästehaus.

Der 20. Januar 1942 ist der absolute Tiefpunkt in meinem Dasein, in meinen Räumen findet die „Wannsee-Konferenz“ statt.

1943 werde ich an das Deutsche Reich verkauft und diene als Erholungsheim der Polizei, Zwangsarbeiter müssen in meinem Garten Kartoffeln pflanzen.

1944 werden hier einige der Attentäter vom 20 Juli verhört.

1945 ist der Spuk vorbei. An die Zeit der Nachkriegswirren kann ich mich nur noch schlecht erinnern, so sollen hier sowjetische Marinesoldaten gehaust haben, jüdische Kinder wieder aufgepäppelt und elternlose Jugendliche betreut worden sein.

1946 gehe ich den Besitz des Magistrats von Groß-Berlin über, werde an die SPD verpachtet.

1947 brennt ein Teil von mir, über den zugefrorenen Wannsee trampelt jeder in meine Räume. Es ist eine chaotische Zeit! Im gleichen Jahr zieht die SPD-nahe Stiftung „August-Bebel-Institut“ ein und macht mich zu ihrer Bildungsstätte mit angeschlossener Bibliothek.

1952, meine oberen Räume sind durch Wasserschäden arg ramponiert, werde ich an das Bezirksamt Neukölln verpachtet und werde ein Schullandheim für Berliner Kinder. Ist hier was los, bis zu 100 Kinder toben durch mich und erholen sich vom Elend ihrer Hinterhöfe!

Wassersportvereine wollen in meinen, inzwischen als Naturdenkmal eingetragenen, Park, die Polizei will, wieder einmal, ein Erholungsheim einrichten. Bürgermeister Albertz macht dem Gerangel 1966 ein Ende, erklärt meinen Park als unteilbar!

1966 fordert der Bundestagspräsident Gerstenmaier während eines Israel-Besuchs meinen Abriss, wiederum Bürgermeister Albertz lehnt dies kategorisch ab. Ich bin gerettet!

Mitte der 60er Jahre will der Auschwitzüberlebende Joseph Wulf als Mitbegründer des „Internationalen Dokumentationscenters zur Erforschung des Nationalsozialismus und dessen Folgeerscheinungen“ eben jenes Dokumentationszentrum in meinen Räumen aufbauen. Bürgermeister Klaus Schütz und der Berliner Senat aber wollen kein „makaberes Denkmal“.

1987 ist es dann soweit, das Grundstück und ich gehen in den Besitz des Landes Berlin über und Bürgermeister Eberhard Diepgen gibt die Absicht bekannt, mich in eine Gedenkstätte umzuwidmen. Das Schullandheim zieht nach Schwanenwerder.

1992 wird die Gedenkstätte in meinen Räumen feierlich eröffnet, mein Garten wird nach alten Plänen um- und rückgestaltet.

Seitdem haben sich unzählige Besucher in meinen Sälen informiert, sich am Garten erfreut, sich in der im Gartenhaus eingerichteten Cafeteria ausgeruht.

Und ich genieße nach einem bewegten Dasein meine wohlverdiente Ruhe.

 

Villa Marlier, Am großen Wannsee 56/58

Quelle: Das Haus der Wannsee-Konferenz, Michael Haupt

 

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